jueves, 11 de noviembre de 2010

Skriptauszug: "Lebendige Gärten"

Ein Panzer als Gartenhaus. Aufbereitung einer Müllhalde in Cojimar

Das rurale, an den Ort gebundene Wissen würde wieder geschätzt, freute sich der Gärtner Suleyha in Bahía, der seine Parzelle am liebsten in ein Bildungszentrum für Erwachsene und einen Schulgarten für Kinder verwandeln möchte. Bereits im Dezember 2009, vier Jahre nach dem ersten Spatenstich, bedeutete der Ort ihm mehr als manchem sein Mietshaus und bestimmt, als es die ursprüngliche Funktion nahelegt. Suleyha grub, säte und ackerte auf einer ehemaligen Müllhalde für Industrieabfälle, auf der auch heute noch ein Panzer, Baujahr 1946, aus der DDR steht. Die Stadtverwaltung1 und die Nachbarschaft respektieren den Garten, da Suleyha das Gelände pachtete, um ein grünes Laboratorium zur Erprobung von Entgiftungsstrategien aufzubauen.

Suleyha: „Dies war einmal eine Schutthalde. Ein sich selbst überlassener Ort. Hier wurde alles hingeworfen, ohne nachzudenken. Ein sehr schlechter Ort, weil es Plagen ohne Ende gab. Das Gleichgewicht war zerstört und nicht mehr in Einklang zu bringen. Deshalb setzte sich die comunidad (Gemeinde) dafür ein, das ökologische Gleichgewicht und die soziale Balance wieder herzustellen. Eine sehr wichtige Angelegenheit, um das Gute vom Schlechten trennen zu können, das Schlechte endgültig beseitigen zu können. (…) Gut, als wir das getan hatten, begann ich Bananen zu säen, Yuca, Boniato, Malanga, aber die Erde war von so schlechter Qualität, dass die Produkte gar nichts produzierten. Sie wuchsen zwar in die Höhe, aber sie trugen keine Früchte. Deshalb sagte ich mir: Gut, dann werde ich eben Bäume säen. Avocado, Mango, Guave, Chirimoya2, gut, mindestens 25 verschiedene Fruchtsorten. Besonders wichtig für die Qualität des Bodens war aber, dass ich Nussbäume säte und Palmen, Edelhölzer, Zedern und den Regenbaum3, all das sind auch Materialien, aus denen Möbel hergestellt werden. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich unbedingt diese Erde wieder gewinnen und sie wieder bewohnbar machen wollte. Ich will die Wahrheit sagen: Alles funktioniert auf diese Weise – sich das, was da ist, zunutze machen: die Entfaltung der Kultur, der ökologischen Landwirtschaft, aus der die jungen Leute und Kinder und auch viele Erwachsene lernen. Sie verändern das Feld. Und dann, deshalb sage ich das - gewinnen sie an Erfahrung für das, was sie vergaßen. Denn nicht alles braucht Dünger. Bodennahrung sind auch diese trockenen Blätter. Diese alte Müllhalde ist eine Wiederaufbereitungsanlage. Das Leben macht es immer am Besten.“

Suleyha hatte mit seinen Freunden die comunidad von den Müllproblemen befreit und schenkte ihnen gleichzeitig einen Umsonst- Garten, in dem sie sich von den reifen Früchten bedienen können. Er löste die Entsorgungsprobleme, die aus der industriellen Nutzung des Gemeindelandes entstanden waren nicht mit den Strategien der Hilfsprogramme, die ihm rechtlich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Kooperative zustehen, sondern durch den Anbau von in Vergessenheit geratenen endemischen, spirituellen und medizinischen Pflanzen. Größere Sorgen als der Hausmüll bereiteten ihm zunächst industrielle Abfälle, wie der 35 Tonnen schwere DDR- Panzer, der nicht mit Leibeskraft entsorgt werden konnte. Deshalb wurde er kurzerhand pinkfarben angestrichen, ebenso wie andere Gegenstände, die an die frühere Nutzung des Ortes erinnern. Ende 2007 wuchsen hier Obstbäume und Sträucher, aber keine Wurzelknollen, denn dafür ist die Qualität der Erde auch nach 11 Jahren sorgfältiger Rückgewinnung noch nicht gut genug. Suleyha meinte, dass die Qualität für Baumfrüchte genügt. Auf meine Frage, woher er das wüsste, denn es könne ja sein, dass die Früchte kontaminiert seien, antwortete er, auch dies hätte ihn seine Familie gelehrt. Ich lernte von ihm neben der Wichtigkeit der einzelnen Bäume für die Verbesserung des Bodens und als wirksame Bepflanzung gegen Bodenerosion, wie überliefertes Wissen vom Land für die urbane Realität nutzbar gemacht wird. Deshalb möchte ich, unter Zuhilfenahme der Theorie Andrea Heistingers, genauer benennen, worauf dieses „Erfahrungswissen“ beruht und wovon es sich abgrenzt:

  • Erfahrungswissen erhebt nicht den Anspruch, universell gültig zu sein, sondern ist offen für veränderte Bedingungen.
  • Es unterscheidet sich vom statischen Begriff der „Tradition“ oder der „Bodenständigkeit“. Der Begriff „traditionell“ ist nach Heistinger ungenau, da er weder einen räumlichen, noch einen zeitlichen sozialhistorischen Kontext bezeichnet (Vgl. Heistinger 2001: 77). Er wird einerseits zur Beschreibung von Pflanzenzucht bei Indigenas verwendet, um das Gegenteil zu einer professionellen Pflanzenzucht zu beschreiben. Andererseits verweist der Begriff in der naturwissenschaftlichen Disziplin auf Methoden, die dort seit ungefähr einem Jahrhundert entwickelt wurden. Dieser Logik folgend, resümiert Andrea Heistinger, dass es in diesem Begriffsschema davor keine Pflanzenzüchtung gegeben haben müsste (vgl. ebd.). Der Begriff der traditionellen Pflanzenzüchtung erwecke den Anschein, als hätte es Pflanzenzüchtung nur im letzten Jahrhundert gegeben, da er heute dem Begriff der modernen Züchtung gegenübergestellt wird.
  • Im Gegensatz zum instrumentalisierten Traditionsbegriff, mit dem Ansprüche an Besitz, auf Land, Macht und Ressourcen legitimiert werden und dem das „Flair des Guten“ anhaftet, unterschied Andrea Heistinger, Hobsbawm folgend, zwischen tradition und custom (Hobsbawm 1993: 2 in Heistinger ebd.). Im Brauch wird Vertrautes in Stil und Sinn weitergetragen: „Dies lässt die Verwandlung der Dinge unter meinem Blick, in meinen Händen, zu. Der Faden der Handlung und der Handelnden wird dabei nicht endlos durch die Gegenwart in die Zukunft gespannt, sondern gerade immer dorthin gespannt, verwoben, vernetzt, eingefärbt, verstärkt, abgeschnitten und wieder zusammengeknüpft, wo er gerade gebraucht wird – sein Gebrauch sinnstiftend ist“ (ebd. 78).

Mit diesem Begriff von brauchbarem Erfahrungswissen lässt sich für die Gärtner in Havanna sagen, sie haben sich ihre Fähigkeiten durch das eigene Experimentieren angeeignet. Damit steht diese Form von Wissen nicht nur konträr zum Traditionsbegriff, der durch naturwissenschaftliche Deutung in die Alltagssprache übersiedelte. Die Geltung von Erfahrungswissen muss sich neuerdings auch vor globalisiertem „Managementwissen“ beweisen, wie es die Recycling- Programme des neuen Politikfelds „Urban Waste Management Strategy“ (vgl. u. a. Cofie/ Adam- Bradford/ Drechsel: 2006) für die Gärtner vorsehen, die auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind, um eine Parzelle bewirten zu dürfen. Über die Kooperativen werden den Gärtnern, wie bereits erwähnt, Unterstützungskampagnen angeboten. Das Sonderbare an den Programmen ist, dass sie die Umweltprobleme von der Geschichte und den Eigenarten des Ortes trennen, der „gesäubert“ oder neu bebaut oder beackert werden soll. Die Programme wollen zu jeder Zeit und an jedem Ort anwendbar sein. Sie sind ohne Örtlichkeit und stehen außerhalb der erfahrbaren Welt. Daneben verkennen die Verfechter der urban- waste- strategy die Motivation der Gärtner, die aus Verdruss über die ambientale Situation selbst neue Beziehungen zur Natur aufbauen. Damit entgeht ihnen die wichtige Funktion des Zuhörens und Verstehens.
Um zu verstehen, welches Wissen vor Ort vorhanden ist, würde es eigentlich genügen, ihnen zuzuhören und sich von ihrem Erfindungsreichtum anstecken zu lassen: Im Gegensatz zu internationalen Hilfsprogrammen, die den Einsatz von gezielten Strategien zur Verwertung von Müll und organischen Restbeständen von Pflanzen zum Zentrum haben, benötigt Suleyha kein zusätzliches „Input“ materieller oder ideologischer Art.
Er wünscht sich für die Zukunft, dass vermehrt Schulklassen dort in ein „Freiluftklassenzimmer“ gehen können, seine Trockenklokonstruktion sieht bereits zwei getrennte Bereiche für Kinder und Erwachsene vor. Anstelle die Schulungen zu besuchen, in denen im Sinne der Dezentralisierung die Verantwortlichkeit von der staatlichen Lenkung zur jeweiligen „community“4 dirigiert wird, hegt und pflegt Suleyha die Pflanzen, die ihm persönlich und seinem sozialen Umfeld etwas bedeuten. Dabei kommt es ihm nicht auf die Ertragsraten an, sondern darauf, dass die Kräfte der Pflanzen und der Erde gemeinsam wirken und die Örtlichkeit derart verändern, dass eine neue Balance zwischen natürlichen Kreisläufen und menschlichem Einwirken entsteht. Der ehemalige Polizist wählt genau aus, welche Früchte er sät. Jeder Baum steht in Verbindung mit der kubanischen Geschichte, deren viele Facetten er nicht müde wird zu erzählen. Als er meinem Bekannten Handy und mir die Früchte zeigte, erzählte er Geschichten, die meist aus seiner Heimat, dem Interior stammten. Darüber hinaus boten die Pflanzen für ihn ein geeignetes Mittel um politisch zu sprechen.

Suleyha: „Mamey Santo Domingo war sein alter Name. Das ist eine rote Frucht, du isst sie wie Obst. Doch erst wenn der Baum 20 Jahre alt ist, trägt er überhaupt Früchte. Das wusste unser Staat beim Triumph der Revolution nicht. Sie hatten kein Bewusstsein für ökologisches Gleichgewicht und unser Staat, das musst du dir vorstellen, ließ alle Mameybäume roden! Zuvor war Kuba der Hauptexporteur der Frucht in der Welt gewesen. Aber gerodet wurde, um den café catura anzupflanzen und zu exportieren. Du weißt, was damit geschah.“ (deutet mit einer ausholenden Armbewegung an, dass es damit vorbei ist und auch keines Wortes mehr wert).
Wenn der Fruchtbaum 60 Jahre alt ist, wird er seine Erträge noch immer multiplizieren. Einige religiöse Menschen glauben, das (das Abholzen, d. k.) hat einen Fluch für Kuba ausgelöst. Dieser Strauch ist heilig! Sie gehört zu Changó5. Nicht nur zu Changó, zu vielen anderen Santos auch. Er wird sogar älter als die Mango!“

1 Die Strategie „limpiar primero y sembrar después“ wurde von Àlvarez 2000 eigens in einem Buch behandelt.

2 Cherimoya (Annona cherimola oder Quechua chirimuyu), gilt als eine „kalte Frucht“. In Südamerika und Spanien wird sie auch Chirimoya oder Churimoya genannt. Sie ist ein immergrüner, tief verzweigter Baum oder Strauch, der bis zu neun Meter hoch wächst. Die Früchte haben eine grüne Schale, die Samen liegen im weißen Fleisch.

3 Der Alleenbaum „algarrobo“ zählt zu den Leguminosen. (Lat. Pithecellobium saman, Leguminosae).

4 Zum community- Begriff vgl. Glossar der Gegenwart. Ulrich Bröckling, Krasmann u. Lemke (Hrsg.) Frankfurt a.M.2004.

5 Der Orisha Changó zählt zu den mächtigsten Gottheiten im Pantheon der Regla de Ocha oder Santería. Er wird im Katholizismus durch die Heilige Barbara und im Palo Monte durch Siete Rayos abgebildet. Er besitzt u.A. Macht über das Feuer.